Drei kleine Stiche

La Goulette, italienisch: La Goletta, auf arabisch حلق الوادي‎, Halk al-Wadi, ist eine Stadt in Tunesien, die einen Teil der Hafenanlagen von Tunis umfasst. La Goulette ist zehn Kilometer von der Hauptstadt Tunis entfernt und mit ihr über einen Damm durch die Lagune von Tunis verbunden.

 

Die Stadt wurde nach der Besetzung Tunesiens durch die Franzosen 1881 gegründet. Bis zur Unabhängigkeit des Landes 1956 lebten hier vorwiegend Europäer, vor allem Italiener.

 

Wir fuhren über den Damm durch die Tunis-Lagune. Rechts und links trockenes, unwirsches Land. Die Fenster im Zug waren zum Teil weder verschließbar noch zu öffnen. Sie waren einfach da, schmutzig, teils luftdurchlässig, teils stumm geschlossen, erlaubten mit ihren schmutzigen Glasscheiben gerade noch den Blick auf das dürre Land. Die großen Abteile waren gefüllt mit den Reisenden, den Hausfrauen, die Hühner in Käfigen auf den Schößen hielten. Hauptsächlich Frauen, grüne Plastiktüten, wie man sie heute in den türkischen Läden in unserem Land bekommt, auf den Sitzen, zwischen den Bänken, der Duft von Cumin, Geflügel und Jasmin breitet sich im Abteil aus.

 

Stumm blicken mich die Frauen an, die Blicke wandern von ihm zu mir, zurück zu mir, wieder zu ihm. Eine europäische Frau mit einem Tunesier, das ginge nicht gut. Ich spüre es genau, sehe, wie sie sich hin und her wundern und denke, lasst mich doch in Ruhe. Ich bin anders als die anderen weißen Frauen und ich werde mit ihm sein bis ans Ende meiner Tage. Schließlich ist er mein Mann.

 

Sadri kam vor wenigen Jahren nach Deutschland, um seinem Bruder zu folgen, der in Stuttgart an der Universität eingeschrieben war, es seinen Schwestern gleich zu tun, die in Paris studierten, die eine Lehrerin, die andere Journalistin. Ein feiner Beruf, Journalistin. Oder auch Lehrerin. Beides wollte ich gern sein. Zuerst Lehrerin. Davon träumte ich in der Grundschule. Während der Jahre auf dem Gymnasium war es klar: Du wirst Lehrerin. Kurz vor dem Abitur stellte sich heraus, dass keine neuen Lehrkräfte von Nöten seien, der Bedarf sei gedeckt. Trotzdem entschied sich beinahe die Hälfte der Klasse, für das Lehramt zu studieren. Die Prognose war richtig. Es gab keine Lehrernot und die Studierten, die Examinierten, egal, ob Grundschule, Sekundarstufe I, Sekundarstufe II, wurden Sekretärinnen in einer Reifenfabrik. Das waren die, die Englisch studiert hatten, wohlgemerkt fürs Lehramt. Sie wurden Steuerberater, das waren dann die Mathematiklehrer. Einer ging sogar ins Landesarchiv, er hatte Geschichte und Latein studiert.

 

Mich demoralisierte der nicht vorhandene Mangel an Lehrkräften derart, dass ich Journalismus als weiteren Traumberuf in mein Herz schloss. Was hinderte mich daran, es anzugehen? Gut, in Deutschland war Journalismus nicht studierbar und auf die Idee, ein Volontariat zu beginnen, kam ich irgendwie nicht. Es blieb ein Traum. Vorerst.

 

Jetzt saß ich zwischen Cumin, Geflügel, Jasmin und Sadri in einem klapprigen Zug zwischen Tunis und La Goulette, ließ mich betrachten von den tunesischen Weibern, die mir mit ihren ausgelatschten, verstaubten Schlappen auf die Nerven gingen. Die ihre Blicke immer zwischen uns hin und her wandern ließen und nicht verstanden, dass ich nun einmal in dieses Land gehöre.

 

Zu Hause in Deutschland im Kreis meiner Familie hatte ich mich immer gefragt, wie ich dahin geraten war. Meine Schwestern waren blond und blauäugig. Sie sprachen eine andere Sprache, nämlich die der Einfältigkeit. Mein Vater fand an mir keinen Gefallen, weil ich ein Mädchen war seit meiner Geburt. Das fünfte Mädchen, zu viel für den damals noch jungen Vater von Mitte Dreißig. Zum Trotz erhielt meine älteste Schwester für die kommende Saison keinen Wintermantel. Warum sie den Preis bezahlen musste für meine geschlechtlich falsche Geburt, ist nicht erklärbar, auf jeden Fall war es ungerecht und garantierte mir für Jahrzehnte die Wut meiner Schwester. Als sie mir viel später die Geschichte von dem Wintermantel erzählte, fühlte ich mich sofort schuldig. Leider bekam ich nicht die Chance der Wiedergutmachung. Kein Mantel, keine Schwesternliebe.

 

Mit Mutter konnte ich nicht wirklich rechnen. Man kann sich vorstellen, dass sie ausgiebig beschäftigt war mit fünf Mädchen und einem starrköpfigen Ehemann. Ich fragte mich, wie gesagt, wie ich in diese Familie geraten konnte und fühlte mich unverstanden – in der Sprache und in der Seele. Ich war überzeugt, dass man mich zufällig kurz nach meiner Geburt irgendwo gefunden hatte, vielleicht auf einer Bordsteinkante während eines Familienausflugs, wenn nicht dies, so doch zumindest verwechselt im Krankenhaus.

 

Als ich Sadri kennen lernte, war da das Gefühl der Zugehörigkeit. Sein Akzent gefiel mir, nordafrikanisch-französisch. Sein sonniges Lachen erreichte mich und ich bat ihn, mir zu sagen, was „Ich liebe Dich“ auf arabisch heißt. Unermüdlich wiederholte er das für Europäer nicht einfach auszusprechende „In hebek“. Ich sprach es nach.

 

Nein, du musst das H hauchen, leicht durch die Kehle ziehen.

 

Diesen Laut gibt es nicht im deutschen Alphabet. Mit der Zeit lernte ich sämtliche arabische Hs kennen, das kehlige H im arabischen Kaffee, ein uns gänzlich unbekannter Laut, das gehauchte H, das harte H mit dampfigem Atemausstoß. In dieser Sprache gibt es nahezu alle Laute aller europäischen Sprachen, das spanisch-gerollte R, das englisch-gelispelte TH, das russisch-palatinisierte N und so weiter und so weiter. Das Erstaunliche war, dass mir keines der Wörter wirklich unbekannt vorkam. Sie waren irgendwie selbstverständlich, bekannt, schon einmal gehört und benahmen sich sofort wie eine Muttersprache in meinem Kopf. Es gab kaum ein Vokabellernen, schulähnlich oder ehrgeizig auswendig gelernt. Ich kannte die Worte so, als hätte ich sie aus der Tiefe meiner Seele wieder hervorgeholt und benutzte sie. Sadri bescheinigte mir, dass ich ganz passabel spräche, was mir wiederum eine große Freude bereitete. Für meine blonden, blauäugigen Schwestern war dies umso mehr ein Grund, auch so langsam daran zu glauben, dass ich geringstenfalls verwechselt worden war zum Zeitpunkt meiner Geburt. Ist es möglich, dass ich ein orientalisches Mädchen bin, obwohl ich eine norwegische Großmutter habe?

 

Draußen stauben die Straßen vorbei, die Frauen sitzen mit ihren weißen Djellabahs und den Körben auf dem Schoss auf den Abteilbänken aus braunem Kunstleder. Die Sitze sind zerschlissen, teilweise aufgeschlitzt, die Nylonfäden fallen aus allen Nähten, Staub auf den Bänken, Staub darunter, Staub auf den Straßen. Die Lagune schimmert wie eine Fata Morgana, hellblau. Salzkristalle blinzeln in die verkratzten und schmutzigen Zugfenster. Ein paar Männer schwingen ihre Gebetskettchen vor ihren Bäuchen, die gleichen ausgelatschten, verstaubten braunen Schuhe wie die Frauen, ein rotes Fez auf dem Kopf. Sie schauen mich nicht an.

 

Sadri sieht nicht hin. Er fängt an zu bereuen, zu leiden, glaubte ich damals. Nun aber bin ich in diesem Land angekommen und hier gehe ich auch nicht mehr weg. Ich bin in Deutschland eine Fremde, ich bin es hier auch. Aber hier versteht meine Seele wenigstens die Sprache und ich sehe ein bisschen aus wie sie... Ich war froh, dass er das einmal sagte.

 

Natürlich gefiel mir Tunis ausnehmend gut. Die Stadt hatte etwas Modernes, Aufgeschlossenes und dann wieder die archaische Altstadt, die diametral zu dem neuen Tunis stand. Über die Avenue Habib Bourgiba, der eleganten Hauptstraße von Tunis, umsäumt von den prachtvollen Bauten der französischen Kolonialzeit, mit Straßenkaffees ähnlich wie auf den Pariser Champs Elysées, dem Vorbild der Avenue Habib Bourgiba, gelangt man zur Medina von Tunis.

 

Die Grenze der Medina wird durch das „Französische Tor“ markiert, einer Nachempfindung des Triumphbogens, ebenfalls aus der Kolonialzeit – wobei die Häuser an diesem Platz allerdings ebenfalls aus der Kolonialzeit stammen, wie auch die meisten anderen, die entlang der größeren Gassen der Medina noch zu finden sind. Der Basar in der Medina ist auf die Touristen ausgerichtet: Lederkamele, Töpferwaren, alle verschiedenen Arten von Andenken, einige Gewürze, so gut wie keine Lebensmittel – die Bewohner von Tunis selbst kaufen in den Einkaufszentren, wie es beispielsweise an der Avenue Habib Bourgiba inzwischen eines gibt.

 

Zuvor waren wir in der Ölbaumgasse, die geradeweg vom Französischen Tor verläuft, die direkt auf die Ölbaum-Moschee, die Große Moschee der Medina führt. Die Querfassade ist kaum zu sehen, der ganze Platz ist dicht bebaut. Wir wollten die Moschee in Gänze sehen und mussten uns einen anderen Standort suchen. Basaris führten uns durch den überdachten Souk der Gold- und Silberschmiede, deren Geschäfte allerdings eher klein, die Auslagen eher unscheinbar sind, dann zu dem Gebäude eines Teppichversands, schließlich auf das Dach des Teppich-Hauses – und von hier sieht man dann tatsächlich nicht nur die Moschee im Ganzen, sondern hat auch einen Überblick über die Dächer der Altstadt. Wir wollten Geschenke für die Familie kaufen. Es ist nicht üblich, in diesem Land mit leeren Händen zu Besuch zu kommen. Eigentlich war es nicht nur ein Besuch. Wir wollten die nächste Zeit im Sommerhaus seiner Eltern in Khereddine verbringen, bis wir ein Häuschen oder eine Wohnung in La Goulette gefunden hätten. Seine Eltern und Geschwister treffen sich dort in jedem Hochsommer von Juli bis Ende August. Die Hitze in Tunis ist unerträglich in diesen beiden Monaten. Sadris Vater war Sulky-Fahrer, deshalb lebte die Familie im sogenannten Sportlerviertel. Vor wenigen Tagen noch waren wir von Frankfurt nach Tunis geflogen und ich lernte seine Familie zum ersten Mal kennen. Hedi, den ich bereits aus Deutschland kannte, war kurz vor uns gelandet. Hedi war ebenfalls mit einer Deutschen verheiratet. Sadris ältester Bruder holte uns am Flughafen ab.

 

Wir fuhren die Avenue Habib Bourghiba hinab, auf der rechten Seite das kleine architektonische Wunder, ein Hotel, dessen Stockwerke sich nach unten verjüngten, so als hätte man es versehentlich auf den Kopf gestellt. Sadri war stolz auf seine Landsleute.

 

Nicht schlecht, was sie da geleistet haben, schmunzelte er.

 

Immer glaubte er, er müsse beweisen, dass seine Nation etwas zu bieten habe.

 

Im Sportlerviertel lagen die Häuser dicht an dicht, keine Vorgärten, keine Zwischenräume oder Lichtstreifen zwischen den kleinen Vorderfronten. Rechts und links weiße Fassaden, durchbrochen von den hölzernen Eingangstüren, die teils einen schweren Beschlag aus Gusseisen, selten Messing, vorwiesen. Es wirkte verriegelt, eintönig, abweisend. Unmöglich, sich zu orientieren - lustig, dass dieses Wort doch tatsächlich etwas mit dem Orient zu tun hat - geschweige denn, das richtige Haus wiederzufinden. Abgesehen davon, dass ich ohnedies nicht einen Schritt allein vor die Tür gemacht und auch nicht gedurft hätte, ich hätte nicht einmal die Straße wiedergefunden, 21, rue Tourette. Hedi trug unsere Koffer ...

 

Das Haus der Familie Khouati stand in einer Reihe mit den anderen Nachbarhäusern, verwechselbar. Abweisendes Holztor, Messingbeschlag, davor staubige Straße, so etwas ähnliches wie ein Bürgersteig – ein Trottoir -  die Franzosen wollten es so, Tunis müsse französischer werden. Hedi stieß die Tür mit seiner Schulter auf, unsere beiden Koffer rechts und links in den Fäusten und schwenkte seinen Kopf mit gewinnender Geste in Richtung des nunmehr geöffneten Vorraums. Obwohl wir noch draußen in der Gasse standen, wehte uns ein kühler Luftzug entgegen, der aus dem Innenhof des Gemäuers wich. Sadri nickte mir ebenfalls zu und es kam mir vor, als wäre ich zwischen den beiden Brüdern eingeklemmt. Mir blieb keine Wahl, ich setzte meinen Fuß über die Steinschwelle des Khouati-Haushalts. Es brauchte einen Moment, bis ich mich an das Dunkel des Vorraums gewöhnt hatte. 

 

C’était pour les animaux dans les temps anciens, belehrte mich Sadri, früher waren hier die Haustiere untergebracht. Parfois un mouton, une chèvre, quelques poules … ein Schaf, eine Ziege, ein paar Hühner. - Wie in den alten Katen im Münsterland, dachte ich, oder wie bei den Germanen: im Foyer das Vieh. Es war nicht der Geruch von Schaf oder Huhn, der mir mit der luftigen Kühle entgegenschlug, es war ein Odeur von etwas anderem, das mir erneut Übelkeit verursachte. Ich konnte meinem rebellierenden Magen keine Beachtung schenken, da Hedi zum Weitergehen drängelte.

 

ماما و بابا صان, Omi und Baba warten, سريع, schnell.

 

Ich stolperte über die Schwelle und stand im großen Innenhof des Hauses statt mir weitere Gedanken über frühere Haustiere zu machen.

 

Was war das für ein elender Geruch?

 

Sadris Blick warnte mich: Wehe, du reißt dich nicht zusammen.

 

Meine Übelkeit war so stark. Mein Kopf platzte schier vor Schmerzen ....