Jules Gabriel

    Am Morgen des 8. Februartag im Jahr 1828 fielen silbrige Lichtstreifen auf das schmale Bett der 28-jährigen Sophie-Nanine. Ihr Atem ging flach, sie schlummerte noch ein wenig und lauschte dem sanften Plätschern der Loire. Das Haus ihrer Eltern stand auf der winzigen Insel Feydau, von der aus man nur mit Brücken das Festland erreichen konnte. Es war ein Eckhaus an der Rue Kervégan und der Rue Olivier-de-Clisson.

 

Es sei nicht mehr genug Platz, wenn erst mal das Kind auf der Welt sei, klagte Sophie. Pierre Verne nickte ihr zu und dachte, es sei ohnehin angenehmer, wenn er mit seiner kleinen, neuen Familie ohne die Beobachtung der Schwiegereltern lebe. Es gebe bestimmt eine Möglichkeit im Haus, wo sich Pierres Kanzlei befindet, darüber sei eine Wohnung frei, hoffte Sophie und stieß plötzlich einen spitzen Schrei aus. Pierre zuckte zusammen. Sophie brauchte einen Moment, bis sie sich aufrichtete. Draußen schipperte ein kleiner Kahn vorbei. „Ich glaube, es ist soweit“, Sophie kniff die Augen ein wenig zusammen und stemmte ihre Hände in den Rücken. „Sag Maman, dass sie zu mir kommen soll und bitte, Pierre, verständige die Hebamme!“ Pierre führte beide kurz geführten Kommandos aus und sah zu, dass er in seine Kanzlei zum Quai Jean Bart kam. Dort in Nantes fühlte er sich etwas sicherer als bei den Frauen. Er fürchtete, ihnen so recht nicht nützlich sein zu können.

 

Er hatte diverse Mandantentermine, die ihn ablenkten von der bevorstehenden Geburt. Seine Aufregung verstand er, glänzend zu verbergen, und als der Tag zu Ende ging, hatte er tatsächlich für ein paar Stunden das zu erwartende Ereignis vergessen. Es dunkelte nun, und er eilte zurück in die Rue Olivier-de-Clisson, in das Haus seiner Schwiegereltern. Dort herrschte eine Stille, die er so nie wahr genommen hatte. War Sophie noch nicht niedergekommen? Man müsste doch ein Geschrei von einem Säugling vernehmen. Wenn nicht dies, so doch ein Wimmern. Aus dem Salon kam seine Schwiegermutter Marie-Sophie und lächelte ihm sanft zu. „Du hast einen Sohn, mein lieber Pierre. Und Sophie geht es gut. Deinem Sohn auch.“ Pierre wackelte von einem Fuß auf den anderen. „Geh schon zu ihr. Sie schläft vielleicht schon.“ Ob er seinen Sohn denn auch einmal sehen könne, wollte der junge Vater wissen, aber Marie-Sophie schob ihn mit beiden Händen einfach die Treppenstiegen hinauf. Möge er nun den Rest allein hinauf steigen, der kleine Jules Gabriel sei wohl versorgt und so ein kleines Kind schlafe ohnedies Stunden und Stunden. Pierre, der sonst nicht auf den Mund gefallen war, schwieg, ließ sich das Geschubse gefallen und war zufrieden. Jules Gabriel also. Man hätte sich gemeinsam darauf einigen können, aber mit Sophie war da nicht zu spaßen. Es bringe Unglück, wenn der Kindsname vor der Geburt festgelegt werde, und damit war jede weitere Überlegung zunichte. Im kleinen Schlafzimmer der jungen Vernes verbreitete die Petroleumlampe ein sanftes Licht und zauberte Sophie ein Glühen auf die Wangen. In ihrer Armbeuge lag der kleine Jules. "Wir werden zum Quai Jean Bart umziehen und unsere eigene Wohnung haben, gleich über meiner Kanzlei“, flüsterte der glückliche Pierre in Sophies und Jules’ Ohren. Über Sophies Lippen wischte ein winziges Lächeln, bevor sie in tiefen Schlaf versank.

 

Nantes

Am Kai lagen die Schiffe in Zweier-, bisweilen Dreier-Reihen, aus nördlicher Richtung zog der Duft des nahen Atlantiks herüber, es roch nach Meer. Die Fassaden aus weißem Kalkstein der Bürgerhäuser reflektierten das grelle Sonnenlicht, eine feucht-warme Luft waberte durch Nantes. Auf der Loire fuhren Schiffe den Fluss hinauf und hinab. Jules Gabriel zog seinen Kopf zwischen die Schultern, steckte die Hände in die Hosentaschen und sog die salzige Luft ein. Die muffige Luft in den Räumen des Lycée Clémençeau behagte ihm nicht. Er war jedes Mal froh, wenn es zur letzten Stunde läutete, und er wusste, dass er nur noch eine knappe Stunde aushalten musste, um sich schließlich an der frischen Meeresluft erfreuen zu können.

 

Zwischen den Mitschülern tauchte Pauls Kopf auf. Er entdeckte Jules an der gewohnten Stelle und fuchtelte mit den Händen herum. Jules nickte kurz. Sein Bruder war ein temperamentvolles Bürschchen und hatte immer etwas zu erzählen. Es war der kaum spürbare Altersunterschied von nur einem Jahr, der die Beiden mehr Freunde als Brüder sein ließ. Er habe vom Klassenfenster aus die großen Schiffe gesehen, ereiferte sich Paul, kaum, dass er bei Jules angelangt war. „So, so“, sagte Jules, ein gutmütiges Lächeln aussendend. „Lass uns erst einmal nach Hause gehen, träumen können wir heute Nacht, wenn wir schlafen.“ Jules wollte nicht, dass sein Bruder Paul entdeckte, wie sehnsüchtig er den Masten der Schiffe nachblickte, in Gedanken mit ihnen reiste. Als älterer wollte er ein Vorbild sein und den ohnehin schnell zu begeisternden Paul nicht noch mehr ins Phantasieren bringen. Paul schmollte ein wenig. Er wundere sich, dass der große Bruder und Freund so wenig Eifer zeige, wisse er doch, dass er nachts im Schlafe von fernen Ländern spräche. Dies könne er ihm nicht verheimlichen. Jules blieb gefasst: „Lass uns nach Hause gehen. Nach dem Essen wird uns die Mutter sicherlich erlauben, für eine Weile hinauszugehen.“

 

Die Vernes hatten vor einem Jahr ein maison de campagne am Stadtrand in Chantenay am südlichen Loire-Ufer erworben. Das Sommerhaus lag auf einem Hang. Von seinem Stübchen aus konnte Jules sehen, wie sich der Fluss mit vielen Nebenarmen in die Landschaft ausbreitete und die Wiesen überschwemmte. Die jungen Verne-Brüder hatten dort ausgiebig Gelegenheit, nach Herzenslust herum zu toben und Nahrung für ihre Träume zu finden. So segelten Jules und Paul mitten durch das Land, durch Felder und Wälder, denn Gelegenheit, auf dem Meer zu fahren, hatten sie nicht. Die Bäume ersetzten den Hochmast. Die Bewegungen der Äste im Wind glichen dem Stampfen und Schlingern der Schiffe. Die Buben lasen und schmiedeten Reisepläne. Chantenay, das klang so gut, Chantenay, das waren die Plätze der Sehnsucht, Freiheit, Wildnis, das waren die Momente der Gespräche mit Paul, der Glaube an die Verwirklichung aller Träume.

 

„Die Eltern haben ein neues Haus gefunden. Wir ziehen um, hast Du sie schon darüber reden gehört?“, erkundigte sich Jules bei Paul. „Mir ist das nicht entgangen, aber immerhin, wir bleiben am Fluss“, beruhigte Paul den Älteren, „Ein wenig näher zur Stadt. Es ist in der Rue Jean-Jacques Rousseau. Mir gefällt es dort noch besser als am Quai Jean Bart“. Jules brummte, was der Kleine immer vor ihm wisse und verlautete, Chantenay aber sei der beste Platz.

 

Ein halbes Jahr später machte sich die Familie des Rechtsanwalts Pierre Verne erneut auf, um ein weiteres Haus an der Loire, stadteinwärts, zu beziehen. Jules schlenderte zum Atlantikhafen, dort lagen Schiffe beladen mit Gewürzen, die betörende Düfte verströmten, die zu unbekannten Ländern in See stachen. Das Gewusel des Sklavenmarktes, das Geschrei der Händler, für Jules legte das Treiben in der Küstenstadt allerlei Phantasien frei, und ihn packte das Fernweh. Am stärksten beeindruckte in die Saint Michel III, ein gewaltiges Schiff, von dem er annahm, dass es in Kürze in See steche und sein Ziel die Bermudas seien. Es war leichter, als er dachte und unversehens fand er sich auf dem Unterdeck des Frachters wieder. Gerade, als er glaubte, nun ginge die Reise los und er sei unentdeckt geblieben, legte sich ihm eine grobe Hand auf die Schulter. Es war Kapitän Olive, der den Jungen freundlich, aber sehr bestimmt, anwies, das Schiff zu verlassen. Jules stiegen die Tränen in den Augen. Er spürte den unnachlässigen Druck auf seiner Schulter und verstand, dass Olive nicht die geringsten Anstalten machte, ihn eventuell zur Überfahrt einzuladen. Jules schlich nach Hause, stahl sich in den Hausflur und als Paul ihn fragte, wo er denn ohne ihn gewesen sei, zuckte er nur mit den Schultern und verzog sich in sein Stübchen.


Einigermaßen erklecklich schloss Jules seine Ausbildung am Lycée Clémenceau ab und machte sich ans Studieren. Dem Vater erschien ein Jurastudium für Jules das Geeigneteste, zumal es galt, die Familientradition zu pflegen. Jules zog nach Paris und teilte sein Studium auf, zum einen in die Juris Prudens, zum anderen in die Literatur. Wie wunderbar es doch sei, zu lesen und zu schreiben, teilte er Paul freudig mit. Es sei wichtig, aus den Erinnerungen der Kindheit zu schöpfen, ließ er verlauten. Hier in Paris würden sie wieder lebendig, und er zeichne das Bild ihrer beider gemeinsamen Jugend.

 

„Du erinnerst Dich an unsere Ausflüge?“

 

Jules geriet ins Schwärmen und Paul bat ihn, eine Passage aus seiner Niederschrift zu lesen.

 

Er wolle das gern tun: „Am Ende des Hafens von Nantes verbreitert die Loire sich auf majestätische Weise; ihre Wasserfläche besteht an dieser Stelle aus dem Zusammenfluss von acht oder neun Armen, deren gelbliche Fluten sich an den Bogen vieler Brücken gebrochen haben. Auf der linken Seite erstreckten sich friedlich die Insel und das Dorf Trentemoult, deren Bewohner ein recht auffälliges Äußeres besitzen, ihre alten Bräuche bewahrt haben und sich, wie es heißt, nur untereinander verheiraten. Zur Rechten stieß der Kirchturm von Chantenay seine lange Spitze in den abendlichen Himmel.“

 

„Hast Du Heimweh?“, hakte Paul nach. Nein, es sei das Fernweh, das ihn plage, aber die Erinnerung an die schöne Kindheit und Jugend sei ein gutes Fundament, um in die Welt zu fahren. Wie denn sein Stück heiße, wollte Paul wissen. „Den Titel werde ich finden, wenn es so weit ist. Vielleicht, wenn ich das letzte Wort geschrieben habe“, erfreute sich Jules ob des Interesses des geliebten Bruders. Eine hindernisreiche Reise nach England und Schottland sei die Grundlage der Geschichte.

 

„Also magst du der Juris prudens nicht mehr folgen, wenn ich dich richtig verstehe“, folgerte Paul.

 

Es sei ihm immerzu die Liebe zur Ferne im Kopfe, die Phantasie von Reisen und fernen Ländern, komplizierte, technische Erfindungen fänden auch sein Interesse. All dies stünde im Vordergrund. Die Juristerei sei eine trockene Angelegenheit und der Vater möge ihm verzeihen, was er ganz sicher auch tue.

 

„Dann also ist das Thema abgeschlossen“, versuchte Paul, noch einmal Gewissheit zu erlangen.

 

Es sähe ganz so aus. Er habe Aussicht auf eine Stellung am Théâtre Lyrique. Als Sekretär und als Autor.

 

Über sein beinahe abgeschlossenes Manuskript freute sich Jules, war es doch sein erstes Theaterstück. Jules beging seinen 20. Geburtstag und wäre heute gern in das pulsierende Leben von Paris, das ihn so sehr inspirierte, gestoßen. Die Stadt war voller Unruhe. In den Straßen liefen die Menschen durcheinander, Geschrei in den Gassen, ein paar Schüsse dort, die Menschen protestierten. Der König hatte die Reform des Wahlrechtes vereiteln wollen, gar hatte er das geplante Bankett verboten, und nun kam es zu heftigen Barrikadenkämpfen in den Pariser Straßen, die Aufständischen gegen die Königstreuen. Die Politik war Jules’ Sache nicht. Viel lieber zog er sich in sein Studierzimmer zurück und sinnierte über die neun Musen. Draußen dankte König Ludwig Philipp ab, floh nach England und es wurde die Republik ausgerufen. Jules entnahm es der Zeitung, die für die Studenten an der Université ausgegeben wurde.

 

Hastig blätterte er weiter, um so bald wie möglich zur geliebten Feuilleton-Seite zu gelangen. Sollen sie doch in den Straßen schreien, die Aufständischen, das Plebs, das den armen König verjagt. Und nun, was habe man nun davon, das Volk werde verprügelt, blutig niedergeschlagen von der Armee und der Nationalgarde. Das Leben da draußen werde sich auch ohne ihn normalisieren. Jules blätterte weiter. Die zweite Republik wird ins Leben gerufen. Und erneut ein Bonaparte auf dem Thron. Prinz Charles Louis Napoléon Bonaparte, nunmehr der dritte, wurde Präsident. Dann mag es in den Vierteln wieder ruhig sein, murmelte Jules und gelangte endlich zu den Nachrichten, die ihn wirklich interessierten. Paris sei doch eine Stadt der Kultur und Wissenschaft, hier finde öffentliches Leben statt, Politik, das sei etwas für Italiener oder Griechen. Ah, ein Treffen des literarischen Zirkels. Er werde sich ihnen anschließen, erfuhr Paul von ihm, als er Jules wiederholt in Paris einen Besuch abstattete.

 

„Meine Theaterstücke sollten ihnen gefallen.“ Dass es beinahe Kopien seines großen Idols Victor Hugo waren, Drama und Theater, geschah nicht aus dem Willen, etwas zu kopieren, vielmehr war Jules begeistert von Hugo und es machte ihm Freude, einen ähnlichen Stil wie das Vorbild gefunden zu haben.

 

„Warum gerade Theaterstücke?“ fragte der Bruder. „Nun, ich sehe darin die größte Herausforderung und außerdem ist es eine Frage der Ästhetik. Sieh mal, in einem gedruckten literarischen Text fehlt jeglicher Ausdruck, erst mit der neuen Interpretation der Schauspieler kommt die Sprache voll zur Geltung. Jeder einzelne Darsteller kann sein eigenes Wesen einbringen und so die Zuschauer in einen Bann ziehen. Er gibt dem Drama Charakter, einen Ton, ein Gefühl. Zudem entsteht ein wahrer Kontakt mit dem Publikum zum Werk des Autoren. Ich will die Wirkung meiner Stücke spüren.“

 

„Glaub nicht, dass ich dich nicht verstehe. Dennoch muss ich dir einen Gruß vom Vater ausrichten, der mit nicht wenig Groll verbunden ist.“, bemerkte Paul. Es sei ihm durchaus bewusst, dass der alte Herr nicht begeistert sei, aber er habe sich entschieden, erwiderte Jules, er möge es gut sein lassen. Das Jura-Studium sei endgültig zur Seite gelegt, auch wenn der Vater noch so lamentiere. „Nun, du wirst dich nicht gerade um dein Erbe bringen“, schmunzelte Paul.