Liebeskind

Frankfurt Flughafen, Terminal II. Die Ankunftstafel lässt mich wissen: Ankunft aus Paris-Orly, 11.15 Uhr, wie erwartet. Bin natürlich viel zu früh. Am Ausgang D werde ich sie wiedersehen, meine kleine Lilli-Ann. Schon 23 Jahre – wie die Zeit vergeht. In Frankreich wollte sie studieren, die Sorbonne musste es natürlich sein. Ausgerechnet, wo wir doch damals so knapp bei Kasse waren.

Ich leerte die kitschige Glas-Bonbonniere, die die einzige Bestimmung hatte, unsere Portemonnaies um Zehnpfennigstücke zu erleichtern. Wir verschmähten die lästigen Zehner, aber jetzt war ich heilfroh, dass sie einmal so unerwünscht gewesen waren. Ich rollte die Groschen in die Bankpapierchen und zählte die Rollen nach. „Schon zehn Mark, Hans-Herbert!“ Hans-Herbert kramte in sämtlichen Jacketts, er zog sie halb aus dem Schrank, prüfte alle Taschen. „Guck auch in den Innentaschen“, - verdammt, was für eine Zeit. Hans-Herbert war tatsächlich fündig geworden. Kaum zu glauben, er fand einen Fünfziger in der Innentasche des beigen Jacketts. Ich versuchte mich zu erinnern, wann er es das letzte Mal getragen hatte. Es muss wohl auf der Fremdensitzung im letzten Karneval gewesen sein – zieh doch mal ne helle Jacke an, so mitten im Winter ist was Helles viel schöner. Da konnte ich natürlich mit meinen Rollen nicht mithalten. Wir nahmen den Fünfziger, unsere Lilli-Ann, das Auto und verbrachten zwei genüssliche Stunden bei McDonald’s. Es reichte dann noch für eine Bibi-Blocksberg-Kassette und Lakritzschnecken für Lilli-Ann. Hans Herbert sagte, es kommen auch wieder bessere Tage.

Inzwischen sind noch ein paar andere Abholer eingetroffen. Ich kriege Lust auf eine Zigarette, laufe ein paar Meter zurück zur Raucherecke. Warum sind Raucherecken immer so lieblos? Nicht einmal sitzen dürfen wir Raucher, wo wir doch mit Raucherbeinen zu rechnen haben. An dem überfüllten Aschenbecher wird das Rauchen zu einer unappetitlichen Sache. Die beiden Qualmer neben mir haben eine etwas graue Gesichtsfarbe. Ich beschließe, das Rauchen demnächst aufzugeben. Von hier aus kann man wenigstens die Anzeigentafel sehen, wir sind noch nicht ganz ausgeschlossen aus der Wellness-Gesellschaft. Lilli-Anns Flieger ist gelandet. Jetzt hätte ich eigentlich erst von zu Hause losfahren müssen. Bis das Gepäck kommt … Hans-Herbert sagte, es ist besser, du bist ein bisschen früher da. Ich stecke mir eine Zigarette an, die graue Hautfarbe kommt bestimmt von der Neonbeleuchtung. Ich betrachte den Rücken eines Mannes vom Typ Howard Carpendale. Das ist doch nicht der Gerhard? Wen will der denn abholen? Nicht meine Lilli-Ann. Es ist nicht Gerhard.

Gerhard und ich lernten uns in einem Irish Pub kennen. Er stand hinter der Theke, gab sich lässig. Ich hockte vor der Theke mit Buch, zum einen, um einen besonders intellektuellen Eindruck zu machen – das zog in diesen Jahren – zum anderen aus der Unbeholfenheit heraus und um nicht in Verlegenheit zu geraten, bei meinem Alleingang in eine Kneipe mit den Augen an einem Typen hängen zu bleiben. Gerhard sprach mich an, meine Rechnung war aufgegangen. So musste ich mir wenigstens nicht vorwerfen lassen, einen Typen angegraben zu haben. Es folgte eine heftige dreijährige Beziehung, die, von Nahem betrachtet, eigentlich nur bestenfalls zwei Jahre eine innige war, wenn man die Zeiten abzieht, in denen er in Berlin zum Studieren war und ich in seiner hessischen Heimatkleinstadt irgendwelchen Jobs nachging. Eines Tages mussten wir nicht einmal darüber sprechen, dass es aus war.

Die D-Halle ist überfüllt. Die ersten Fluggäste passieren die Flügeltüren mit dem Milchglas. Es ist, als ob man als Nichtflieger keinesfalls auf die andere Seite blicken darf. Ein Privileg, das nur den Ankommenden vorbehalten sein soll. Sämtliche Abholer haben sich einen Trolley geschnappt, um ihre Schwestern, Tanten, Kinder, Eltern, Nachbarn mit ihrer Aufmerksamkeit zu beeindrucken. Sie übersehen dabei, dass die Jetsetter längst mit einem solchen Gepäckwagen bestückt sind. So geschieht es, dass sich bei jedem Eintreffenden zuerst die Wagen begrüßen. Sie klatschen zusammen und stehen der ersten Umarmung, dem ersten Küsschen im Weg. Bei den meisten bleibt er ob der Wiedersehensfreude dann erst mal in der schmalen Schneise, die die Angehörigen und Freunde gerade noch übrig lassen, stehen. Dabei passiert es schon mal, dass drei, vier Trolleys zusammengeschubst werden. Der ohnehin enge Gang wird zum Hürdenparcours. Die restlichen Wartenden kapieren es immer noch nicht. Sie trennen sich auf keinen Fall vom ergatterten Gepäckwagen. Für alle Fälle!

Nach einem Jahr des Schmerzes läuft mir Hans-Herbert über den Weg. Ehe und Kinder – für ihn kein Thema. Warum nicht? Endlich verspricht mir ein Mann das ewige Glück. Meine neue Beziehung wirkt sich als Attraktion auf Gerhard aus. Er will mich wiedersehen. Wir verbringen eine zauberhafte Nacht miteinander. Am Morgen trollt er sich – für immer.

Hans-Herbert und ich heiraten, später kommt Lilli-Ann zur Welt. Ein Kind der Liebe, ohne Zweifel.

Da erscheint Lilli-Ann, meine süße Lilli-Ann, in der Milchglasflügeltür. Sie hat ihren Seesack geschultert. Ich wusste es. Ich habe natürlich nicht fürsorglich gehandelt – könnte mir ja noch einen Trolley schnappen, es stehen ja genug herum. Lilli-Ann sucht augenscheinlich nach mir, nach uns. Der Seesack ist vermutlich voll mit Unterhosen und Socken, die dringend gewaschen werden müssen. Ich habe ganz und gar keine Lust dazu. Sie sieht phantastisch aus. Sie – ja, hat das denn noch nie jemand bemerkt? – sie hat sehr viel von Gerhard. Dieselbe schlaksige Figur, dieser Blick, die aufgeworfenen Lippen, spöttisch und staunend. Kann Hans-Herbert eigentlich nicht rechnen? Hat er noch nie nachgerechnet? Ich werde es ihm nie sagen, es würde ihn nur verletzen …